Im Rahmen des Projekts COSY-SMILE 2 lieferte das Institut für Produktentwicklung und Konstruktionstechnik (PKT) zahlreiche Modelle aus dem 3D-Drucker. Sie vermeiden Tierversuche, sichern die Behandlungsqualität und ermöglichen eine verbesserte Weiterbildung von Operateurinnen und Operateuren.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Ein Schlaganfall zeigt sich durch plötzliche Lähmungen oder Taubheitsgefühle in Gesicht, Arm oder Bein, Sprachstörungen, Sehstörungen, Schwindel, Gangunsicherheit und starke Kopfschmerzen. Es ist wichtig, in einer solchen Situation möglichst schnell 112 zu rufen, denn jede Minute zählt. Ein Blutgerinnsel blockiert die Sauerstoffversorgung des Gehirns. „Time is Brain“, sagen Fachleute – je schneller der Verschluss durch einen Eingriff beseitigt werden kann, desto besser die Prognose!
Das Institut für Produktentwicklung und Konstruktionstechnik (PKT) der TU Hamburg unter der Leitung von Prof. Dieter Krause hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass Ärzte die schwierige minimalinvasive Katheter-OP (Thrombektomie) ohne Tierversuche und häufiger üben können. HANNES heißt das Modell, das die arteriellen Gefäße von Leiste oder Handgelenk bis ins Gehirn abbildet. Das Akronym steht für „Hamburger Anatomisches Neurointerventionelles Simulationsmodell“. Außerdem kann an dem Modell die Behandlung von Aneurysmen (Ausstülpungen von Adern) geübt werden. Das funktioniert ein bisschen wie das bekannte Geschicklichkeitsspiel „Dr. Bibber“ in echt. Bei Dr. Bibber müssen mit ruhiger Hand Plastikorgane aus einem Spielmännchen herausoperiert werden. An Hannes lässt sich trainieren, einen Mikrokatheter mir einem Durchmesser von unter 1 mm von der Leiste bis ins Hirn zu schieben, ohne dabei falsch abzubiegen oder Adern zu beschädigen.
Was wie ein Spiel klingt, kann Leben retten und Lebensqualität erhalten. Schlaganfälle sind eine der häufigsten Todesursachen und die führende Ursache von Behinderungen. Jährlich ereignen sich in Deutschland rund 270.000 Schlaganfälle – Tendenz steigend. Unterstützt wird das Projekt u.a. vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) sowie anfangs vom Forschungszentrum Medizintechnik Hamburg (FMTHH), einer Kooperation zwischen TU Hamburg und UKE (Universitätsklinikum Eppendorf). Durchgeführt werden Erstellung und Anpassung der medizinischen Modelle durch die drei Medizintechnik-Doktorand*innen Jonte Schmiech, Eve Sobirey und Marie Wegner.
Die Einzelteile des Modells entstehen am PKT im 3D-Druck. Sie basieren auf anonymisierten Patientendaten. Verschiedene Bereiche des Modells lassen sich austauschen und anpassen. So können unterschiedliche anatomische Gegebenheiten simuliert werden. Die Druckmaterialien werden gemäß des Feedback der erfahrenen Neurointerventionistinnen und Neurointerventionisten des Partners UKE gewählt und verändert, so dass sich die Arbeit am Modell möglichst echt anfühlt. Die Herstellung noch feinerer Verästelungen als bisher, mit einem Durchmesser von kleiner zwei Millimeter, ist bereits in Arbeit. Ebenso denkt das Team über die Abbildung des venösen Systems und die Integration weiterer Krankheitsbilder nach.
Ein weiterer Vorteil des Projekts besteht darin, dass an Hannes schrittweise gelernt werden kann. So ist es möglich, den Weg des Katheters durch die Adern zuerst direkt mitzuverfolgen, erst später wird das Modell abgedeckt und die Orientierung erfolgt mittels Röntgen. Auch können Trainierende das Verfahren beliebig oft üben, bis es perfekt sitzt. Und ihr Trainingserfolg objektiv messbar wird.
Hannes ist Teil des Projekts COSY-SMILE-2 (Completely Synthetic Stroke Model for Interventional Development and Education 2). Das Modell ist seit 2014 im UKE im Einsatz. Zuvor lernten und übten Ärztinnen und Ärzte den Eingriff an Kaninchen und Schweinen. Doch erstens unterscheidet sich deren Anatomie wesentlich von der menschlichen. Zweitens mussten die Tiere für die Übungen erst narkotisiert, dann euthanasiert (getötet) werden. Die Forschung hier folgt dem 3R-Motto für Tierversuche: „Refine, Reduce, Replace“. In diesem Fall kann die Nutzung von Tieren mittlerweile am UKE komplett replaced werden. Zudem können beim Üben Originalinstrumente verwendet werden und gezielt einfach oder schwierige Krankheitsbilder beliebig oft wiederholt werden.
Am PKT werden im Anwendungsfeld der Medizintechnik auch weitere medizinische Modelle entwickelt. Und die Beteiligten geben sich dabei nicht nur viel Mühe mit der Materie, sondern auch bei der Namensgebung. BERTA heißt das „Maus-Phantom“ zur Qualitätssicherung bei Bestrahlungsexperimenten an Kleintieren: Brave Rodent Phantom. Das Modell erlaubt den Einsatz unterschiedlicher Dosismessmittel sowie biologischer Proben und wirkt im CT und Mikro-CT täuschend echt. So lässt sich die präzise Positionierung der Tiere und die Ausrichtung der Strahlung sicherstellen. Dadurch können weniger Experimente an echten Tieren durchgeführt werden. Ein Beispiel für die beiden anderen R’s: Refine und Reduce.
HUGO, das Hamburger Prostatabiopsiemodell, hilft beim Training und der Qualitätssicherung der Fusions-Biopsie der Prostata beim Menschen. Und CHARLIE, ein Clinical Phantom for Radiation Therapy of the Pelvic Region, ermöglicht die erheblich präzisere Bestrahlung von Prostata-Karzinomen.
Schwerpunkt am PKT sind Methoden zur Entwicklung modularer Produktfamilien sowie Strukturanalyse und Versuchstechnik. Angewandt werden die Ergebnisse in der Luftfahrt, im Maschinen- und Anlagenbau, und eben in der Medizintechnik. Die Mitarbeitenden und Prof. Krause sind stolz auf ihre Ergebnisse. „Dass Hannes ein medizinisches Modell ist, vergisst man schnell – so realitätsnah wirkt es im praktischen Einsatz. Unsere Modelle stehen exemplarisch für eine Medizin der Zukunft: Sie ist nicht nur präziser und effektiver, sondern auch deutlich ethischer. Selbstverständlich braucht es fundierte Grundlagenforschung – uns geht es dabei insbesondere um die Erkenntnisse zur Entwicklung und Konstruktion im engen, interdisziplinären Austausch mit Ärztinnen und Ärzten. Umso schöner ist es, dabei stets vor Augen zu haben, wofür all das am Ende gut ist.“, so Krause.