Die aktive Fachinformation als neue Herausforderung und Chance

Modell einer Benutzerschulung an der Fakultät Chemie der Universität Stuttgart

Referat bei der Tagung der Arbeitsgruppe Fachreferat Naturwissenschaften am 4.3.97 in Berlin

Dr. Helmut Oehling

Universitätsbibliothek Stuttgart


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

an der Universität Stuttgart, von der ich komme, existiert eine große Chemie-Fakultät mit insgesamt 16 Instituten, in denen mit Ausnahme der pharmazeutischen und der Lebensmittelchemie alle Chemie-Teildisziplinen vertreten sind, darüberhinaus auch die Chemische Technologie mit den Schwerpunkten Kunststofftechnologie und Bioverfahrenstechnik.

Von der Bibliotheksstruktur her haben wir in Stuttgart ein zweigleisiges Bibliothekssystem mit Zentralbibliothek und ca. 140 Institutsbibliotheken, wobei die Zentralbibliothek zweigeteilt ist: Die Hauptbibliothek, die alle Verwaltungsabteilungen beherbergt, liegt im Stadtzentrum und versorgt die Geistes- und Wirtschaftswissenschaftler, sowie die Architekten, die Zweigstelle im Stadtteil Vaihingen die Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften (die Uni Stuttgart ist eine ehemalige TH). Diese Zweiteilung bringt das Problem mit sich, daß manche Fachreferenten, die auch Verwaltungsfunktionen wahrzunehmen haben, ihren Arbeitsplatz weit weg vom Schuß in der Hauptbibliothek in der Stadtmitte haben. Dies ist auch mein Schicksal.

Um mich kurz vorzustellen: ich bin Chemiker, damit Fachreferent für Chemie, Chemische Technologie, allg. Naturwissenschaften, Medizin, auch Ackerbau und Viehzucht beherrsche ich, zumindest was die Seite der Literatur betrifft.

Von den Verwaltungsaufgaben her leite ich die Erwerbungsabteilung. Daneben bestehen Aufgaben im Bereich des Etat- und Hauhaltswesens (HH-Anträge, Etatüberwachung usw.) In der Bibliothekskommission der Fakultät Chemie bin ich stimmberechtigtes Mitglied. Den Vorsitz führt einer der Professoren.

So viel zum Vorstellungsteil.

Vor dem Hintergrund dieses Bilbiothekssystems hatte ich vom Beginn meiner Berufstätigkeit an so etwa 5 Jahre lang im Stadtzentrum in meinem Büro gesessen, mit meinen Klienten in der Fakultät über das Telefon und den einen oder anderen Anschaffungsvorschlag verbunden. Zur Auslastung hatte ich mich, wie üblich, in die Verwaltungsarbeit gestürzt, um dort meine Daseinsberechtigung zu finden, zumal dies in der Regel auch viel stärker honoriert wird als 'bloß' Fachreferent zu sein. Das Fachreferat wurde in klassischer Weise versorgt, d.h. Bücher auswählen,ihnen nach Eingang eine DK-Zahl und ggf. einen Sonderstandort 'verordnen' und anschließend in irgendwelche Regale stellen lassen, wo sie dann hoffentlich ihre Benutzer finden.

Kein Bibliotheksdirektor (oder kaum einer) wird gegen solch ein Berufsverständnis etwas einwenden.

So um 1984 begann in der Chemie die Ära der Online-Recherchen im Zusammenhang mit der Etablierung des Hosts STN. An der UB Stuttgart wurde diese Aufgabe von Beginn an - und das finde ich richtig so - als eine originäre und selbstverständliche Aufgabe des Fachreferenten angesehen und nicht etwa einem speziell dafür eingestellten Searcher übertragen, der dann für alle Fächer recherchierte, - wahrlich, die höchste Form des Universalgelehrtentums! Ich machte Schulungen beim FIZ Chemie und stieg ins Online-Recherchieren ein, einschließlich der mitunter schwierigen, aber um so reizvolleren Strukturrecherchen. Das hatte sich dann auch bis zur Uni Hohenheim in Stuttgart herumgesprochen, die ihre Interessenten mit ihren Strukturrechercheproblemen zu mir schickte.

Dies war der Beginn intensiver Kontakte zu den Mitgliedern der Fakultät. Ich fuhr (ich fahre auch heute noch) zu den Rechercheterminen in die Zweigstelle nach Vaihingen und führte, was m.E. die einzig sinnvolle Variante ist, die Recherchen im Beisein der Professoren bzw. Mitarbeiter durch. Auf einmal wurde ich als Fachreferent wahrgenommen, mancher erfuhr dabei überhaupt, daß es in einer UB so etwas wie einen Fachreferenten gibt. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, von den Chemikern wirklich gebraucht zu werden. Die Recherchen nahmen über die Jahre stark zu, so daß ich oft zwei volle Vormittagstermine pro Woche hatte. Glücklicherweise ließen die Aufträge, bedingt durch die inzwischen oft dezentral in den Instituten durchgeführten Recherchen nach, denn dieses Pensum wäre nicht mehr zu bewältigen gewesen.

Mitte 1994 entschied sich die Fakultät Chemie zur Teilnahme am Projekt Endnutzerförderung Chemiedatenbanken (von GdCh und BMBF gefördert). Im November 1994 fanden die ersten Schulungen durch externe Referenten statt. Geschult wurde entsprechend einem Multiplikatorsystem, d.h. zunächst wurden die internen Schulungsleiter berücksichtigt, die dann später im Hause die Schulungen übernehmen sollten.

Einige günstige Konstellationen ließen das Projekt von vornherein unter einem guten Stern stehen: So war der Projektleiter gleichzeitig Dekan der Fakultät und allen Fragen der Fachinformation sehr aufgeschlossen, und seine Assistentin, die konkret die Dinge auf den Weg brachte, sehr engagiert und kompetent. Die Übungsmöglichkeiten waren ideal, da die Fakultät schon seit Jahren über einen CIP-Pool-Raum verfügte, d.h. einen Raum mit 9 PCs, die unter Novel an das RUS angeschlossen waren. So konnten pro Kurs immer bis zu 18 Teilnehmer geschult werden.

Als ich von diesem Projekt erfuhr, bekundete ich mein Interesse an einer Teilnahme bzw. Mitwirkung, was dankbar angenommen wurde. Mir schwebte allerdings vor, den Schulungsumfang von Anfang an nicht nur auf das Online-Recherchieren zu reduzieren, sondern alle Informationsangebote der Bibliothek im Sinne einer integrierten Fachinformation zu vermitteln.

Ich intervenierte von Anfang an beim Dekan und seiner Assistentin, mit dem Ziel, bei dieser Gelegenheit doch gleich Nägel mit Köpfen zu machen und bei allem Online-Recherchieren nicht die Print-Medien (z.B. CA, Beilstein, Gmelin, Houben-Weyl usw.) zu vergessen, auch nicht das CD-ROM-Netz der UB mit seinem vielfältigen Datenbankangebot, das auch für Chemiker interessant ist (SCI, Current Contents, Biol. Abstracts, Inspec u.a.). Wichtig war mir auch der Hinweis, daß unbedingt im CA- und REG-File von STN geschult werden müsse, den mit Abstand wichtigsten Datenbanken für den Chemiker, die beide aber kurioserweise nicht Teil des kostenlosen Datenbankpaketes des Projektes sind.

Dieses Programm war natürlich nicht mehr von einer Person allein zu bewältigen. Glücklicherweise fanden sich Assistenten (meist akad. Räte oder Oberräte mit Dauerstellungen) aus mehreren Instituten bereit, aktiv solche Schulungen durchzuführen. Inzwischen sind wir 6 Dozenten. Die Schulungen finden zweimal jährlich blockweise in den Semesterferien statt und gehen über 3-4 Wochen.

Bis heute wurden auf diese Weise etwa 140 Diplomanden und Doktoranden geschult. Jeder Teilnehmer erhält eine Teilnahmebescheinigung, die er bei späteren Bewerbungen verwenden kann. Auch die ersten Studentenkurse fanden statt. Geplant ist die Integration in das Studium als Pflichtveranstaltung. Es finden auch weiter, solange das Projekt noch finanziert wird, Schulungen durch externe Referenten statt, vorwiegend bei speziellen Themen wie Patentrecherchen oder Spektrendatenbanken.

Schon frühzeitig machte sich der Dekan Gedanken, wie es weitergehen soll, wenn Mitte 1997 die Förderung des Projektes endet. Auf keinen Fall soll es zu einem Absturz kommen wie bei den entsprechenden Projekten in Physik und Mathematik geschehen, die, zumindest an unserer Universität, relativ sang- und klanglos im Sande verliefen ohne große Nachwirkungen. Es wird überlegt, inwieweit ein Fond der Fakultät geschaffen werden soll, der die weiteren Schulungsprogramme auf Dauer sicherstellt und den Mitarbeitern und Studenten die Möglichkeit von Übungsrecherchen, und sei es in den billigeren Learnfiles, sichert.

Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen, daß die Stuttgarter mit ihrem Schulungsprojekt großes Lob von höchster Stelle ernteten. So bedankte sich der Projektleiter der GdCh in einem Brief an den Dekan.

Um die Zukunftsperspektive ging es u. a. auch, als sich die Universität Stuttgart am baden-württembergischen Konsortium zum Erwerb der Inhouse-Datenbank Beilstein Crossfire beteiligte. Dabei handelt es sich um die Datenbankversion von Beilstein: Handbuch der Organischen Chemie.

Die Initiative hierzu war 1995 von der UB Freiburg ausgegangen . Durch Verhandlungen eines Konsortiums, dem außer Freiburg die Universitäten Heidelberg, Karlsruhe, Hohenheim und Stuttgart angehörten, mit dem Beilstein-Institut gelang es, eine Rabattstaffel abhängig von der Zahl der Konsortiumsmitglieder auszuhandeln. 1997 stießen Saarbrücken und Mainz hinzu (eine Erweiterung also über die Landesgrenzen hinaus), Tübingen wird möglicherweise im Laufe des Jahres folgen. Dieses Beispiel war das erste in Deutschland, allerdings gibt es ähnliche Verbundlösungen bereits in England (alle Universitäten), USA : 65 Unis, Österreich, Schweiz, Polen. In Deutschland scheint das baden-württembergische Modell Schule zu machen. Man hört von anderen Bundesländern, die ähnliches anstreben. Vielleicht gibt es auch bei uns demnächst ein bundesweites Konsortium.

In BW erklärte sich dankenswerterweise das Rechenzentrum der Uni Freiburg bereit, (bisher) kostenlos den zentralen Serverbtrieb zu übernehmen (IBM RS 6000, 15 GByte), so daß Serverwartung, -erweiterung und -updating nicht an 5 oder 6 Orten stattfinden, sondern nur einmal, mit den entsprechenden Einsparungen bei Sach- und Personalkosten. Die Verbindung nach Freiburg läuft über das sehr schnelle Wissenschaftsnetz BelWü. Bisher gab es keine Leitungsengpässe. Angeschlossen sind an der Uni Stuttgart 15 Institute auch außerhalb der Fakultät Chemie, sowie die UB, so daß Crossfire allen Benutzern zur Verfügung steht.

Seit Januar 1997 bieten Freiburg und die Uni Stuttgart auch die neue Reaktionsdatenbank von Beilstein an, die gegen einen Aufpreis von DM 8 000 zu haben ist. Auch hier existiert eine Rabattstaffelung. Die Universität konnte inzwischen von der Wichtigkeit des Crossfire für Forschung und Lehre überzeugt werden und beteiligt sich mit 50 % an der Finanzierung. Den Rest übernimmt die Fakultät.

Beilstein-Crossfire bringt auch für unsere Schulungsprojekte große Vorteile, da es hier möglich ist, unbegrenzt die für den Chemiker so wichtigen Strukturrecherchen durchzuführen und zu üben, ohne daß (erhebliche) Kosten für die Nutzung von Online-Datenbanken wie Registry-File entstehen. Auch bei Forschungsrecherchen schaut man inzwischen erst mal, was Crossfire bietet und geht erst dann, wenn noch nötig, in den Reg-File. Für Studenten steht die Datenbank auch auf den 9 PCs im CIP-Pool-Raum zur Verfügung.

Zum Schluß dieses Teils meines Vortrages noch ein Hinweis auf die Homepage der Fakultät zur elektronischen Fachinformation, die umfassend und detailliert über das ganze Angebot informiert, im Sinne einer integrierten Fachinformation.(http://www-ipc.chemie.uni-stuttgart.de/fachinformation)

Sie sehen, es gibt neue Betätigungsfelder für uns Fachreferenten, wenn wir unsere Aufgabe, Schnittstelle oder Transmissionsriemen zwischen Bibliothek und Fakultäten bzw. Instituen zu sein, wirklich ernst nehmen. Und noch ein Hinweis (Tip): Einfach mal anfangen mit einem kleinen Angebot an die Fakultät, einer kleinen Veranstaltung, sich so ins Bewußtsein der Fakultätsmitlglieder bringen und ihnen zeigen, daß man etwas zu bieten hat. Nicht immer muß es gleich der große Wurf sein, hinter dem die ganze Fakultät steht. Die Leute wollen erst mal sehn, ob das etwas bringt und ankommt. Alles andere ergibt sich dann von selbst.

Natürlich bleiben wir alle weiter klassische Fachreferenten, was die klassischen Felder der Erwerbung und Erschließung betrifft, aber hinzukommt mit steigender Wichtigkeit die aktive Vermittlung dessen, was wir da anschaffen und bereitstellen. Die klassischen Aufgaben allein können - zumal in Zeiten umfangreicher Nutzung von Fremdleistungen sowohl bei der Sachkatalogisierung als auch Standortvergabe - nicht mehr allen Ernstes die Legitimation unseres Berufsstandes begründen.

Ich möchte im folgenden thesenartig auf das Berufsbild des Fachreferenten eingehen. Dies tue ich durchaus in etwas apodiktischer und vielleicht auch provokativer Form, damit die Probleme einfach schärfer hervortreten und wir vor allem anschließen genügend zu diskutieren haben. Erwarten Sie also keine wissenschaftliche Abhandlung mit historischem Rückblick. Davon ist genug (viel zu viel) in unseren einschlägigen Fachblättern publiziert worden, ohne daß sich je irgendwelche Konsequenzen daraus ergeben hätten.

Fachinformation 2000 - 12 Thesen


Dr. Helmut Oehling
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März 1997